Punkt ohne Linie zur Fläche
Für Willi Kemp
Der Maler Hermann-Josef Kuhna hat in den vergangenen gut fünfzig Jahren ein unverwechselbares und eigenwilliges malerisches Werk geschaffen, in dem grundlegende Wahrnehmungspotenziale der Malerei untersucht werden. Seine Formensprache ist auf das Wesentliche konzentriert, reduziert auf wenige Mittel: klare Farben, unhierarchisch organisierte Bildoberflächen, entwickelt aus wiederholten, in unzählbarer Vielfalt aufgebrachten, kleinen Einzelformen – meist Punkte, aber gelegentlich auch Formen wie Spiralen oder gar Bumerangumrisse. Die zentrale Form Kuhnas, in der alles kulminiert und aus der alles in seinen Bildern entsteht, ist der Punkt. Ein typisches Bild von Kuhna ist eine durch Punkte in verschiedenen Farben organisierte Fläche, die zunächst keine Orientierung außer einem überwältigend anmutenden Farbrausch anbietet. Kuhnas Bilder sind primäre Farberscheinungen, ihre Organisation ist eine Organisation von Farben, die aus mehreren Gruppen von Punkten gleicher Farbe besteht, einander teilweise überdeckend, aber wie bei Josef Albers nie in einem malerischen Prozess, durch Pinselbewegungen auf der Leinwand gemischt werden. Kuhnas Farbauftrag ist handwerklich, aber nicht handschriftlich oder gar gestisch zu nennen. Blickt man auf die in der Malereigeschichte bereits existierenden Traditionen von Punktebildern oder Pointillismen, so kann man feststellen, dass jeder Maler und jede Malerin ihre eigenen Punkte erfindet, und Kuhna bestätigt diese Beobachtung. Schon auf dieser unmittelbaren Ebene der Herstellung des Bildes ist also klar, dass die Punkte Kuhnas und die aus ihnen resultierenden Bilder völlig eigenständig sind und mit bereits bekannten Punktebildern direkt nichts zu tun haben. Der Pointillismus als Extremform impressionistischer Malerei, wie er von Pissarro, Seurat, später von Rysselberghe in Belgien oder Walter Ophey in Deutschland und vielen anderen praktiziert wurde, sollte nicht als Vorbild für Kuhnas Malerei missverstanden werden. Kuhna kennt und schätzt selbstverständlich diesen bedeutenden frühmodernen Malstil, seine eigene Malerei ist jedoch nicht durch ihn geprägt. Im Pointillismus stand die Analyse atmosphärischer Phänomene, standen Licht und Raum im Vordergrund des Interesses. Kuhnas Bilder dagegen sind ohne die Kenntnis der Farbfeldmalerei und des Hard Edge von Künstlern wie Kelly, Noland oder in Deutschland Fruhtrunk und Gaul nicht zu verstehen. Kuhnas Punktebilder sind nicht pointillistisch, sondern bei aller Kleinteiligkeit und Komplexität doch sehr selbstbewusst und konkret flächig. Diese Flächigkeit ist Folge der sorgfältigen, fast meditativen Art, in der Farbe bei Kuhna auf die Fläche gebracht wird. Der Effekt ist seltsam faszinierend: da auch bei der Betrachtung aus geringer Entfernung keine malerische Geste zu sehen ist, bleibt die Farbwirkung selbst gleichsam ungefiltert durch das künstlerische Temperament. Das ist ähnlich wie bei Josef Albers und seinen Homages to the Square. Auch in diesen Bildern wirkt der nüchterne, mitunter fast naiv wirkende Farbauftrag als enorme Verstärkung einer reinen Farbempfindung, die nicht durch genialisch-expressive Körpergestik des Malers gestört wird. Kuhna entfaltet in seinen Bildern jedoch eine ganz andere „Interaction of Color“ als der große Meister aus Bottrop. Kuhnas Farbwirkung erscheint durch die Kleinteiligkeit seiner Bildorganisation reicher und komplexer. Es bleibt wichtig festzuhalten, dass Kuhnas Malerei stets als Malerei erkennbar ist, ohne das Bild durch zu viel emotionalen Überschwang zu verdecken.
Das erste Bild Kuhnas, das ich genauer betrachtet habe, ist das großformatige Gemälde lost one aus dem Jahr 1997, das ich als Teil der Schenkung der Sammlung von Willi Kemp an das Museum Kunstpalast im Jahr 2011 in der Präsentation „neue Farben“ ausstellte und dabei besonders mit einem Gemälde von Gene Davis aus dem Jahr 1965 in Beziehung setzte – der Komposition Catwalk, einem breiten Querformat, dessen Bildoberfläche aus zahllosen nebeneinander liegenden Vertikallinien in unterschiedlichen reinen Farben besteht.
Hier Linien, dort Punkte. Beide Gemälde reagierten gut aufeinander. Obwohl über 40 Jahre zwischen ihren Entstehungszeiten liegen, waren sie in der Ausstellung gleichermaßen präsent, und ihre Verwandtschaft war unmittelbar deutlich. Beides sind Beispiele für eine überzeugende Reduktion der Malerei auf zwei wesentliche Mittel – die einfache Einzelform und ihre Anordnung in einer Vielzahl unterschiedlicher, reiner Farben. Der Vergleich machte mir deutlich, dass sich Kuhnas Malerei im Kontext mit anderen Bildern avantgardistischer Malerei, in denen es um die Reduzierung der formalen Mittel auf eine wesentliche Aussage geht, problemlos behaupten kann. Wie Davis‘ Malerei kann man auch Kuhnas Bilder nicht mit der Op Art im Sinne von Bridget Riley in Beziehung bringen, deren Farbwahl konzeptueller ist als die wesentlich freier, intuitive Farbgebung Kuhnas.
Es ist unnötig, einzelne Bilder von HermannJosef Kuhna genau zu beschreiben, wenn man das generelle Prinzip erkannt hat, nach dem sie organisiert sind. Kuhnas Bilder sind keine Serienerzeugnisse, sondern völlig individuelle Setzungen. Diese gleichsam persönliche Individualität erfährt der Betrachtung in der unmittelbaren Anschauung klarer und überzeugender als in jedem Versuch einer Beschreibung. In dieser Hinsicht gleichen sie den Werken von Barnett Newman, der ebenfalls mit einem formal eng umgrenzten Vokabular Bilder erschaffen hat, die sich voneinander grundlegend unterscheiden und die sich fast wie Personen voneinander unterscheiden. Auch Kuhnas Bilder kann man insgesamt wie die Angehörigen einer großen Familie betrachten – sie alle haben gleiche Einzelmerkmale, ihre jeweils andere Zusammensetzung, die unterschiedlichen Farben und aus den Punkten erzeugten Formen machen sie zu Individuen. Als ein kennzeichnendes Merkmal ließe sich die Schlüsselrolle des Punktes bezeichnen, der ohne den Umweg über die Linie Formen und Kompositionen generiert – in augenzwinkerndem Gegensatz zu Kandinsky, der Linien brauchte und sie als Ergebnisse aus aneinandergereihten Punkten auffasste. Die Ambivalenz zwischen Individualität und überindividuellen Stilmerkmalen, die in diesen Bildern gleichzeitig vorhanden ist, entspricht Kunstwerken aus Traditionslinien, die vielfach als „primitiv“ oder „tribal“ bezeichnet werden. In vielen afrikanischen Kulturen südlich der Sahara werden Kunstwerke in rituellen Funktionszusammenhängen eingesetzt, die gleichzeitig stilisiert und individuell sein müssen, um ihre gesellschaftliche Funktion erfolgreich ausüben zu können. Die Erforschung afrikanischer Skulpturen hat gezeigt, dass die Individualität einzelner Skulpturen eine schöpferische Leistung von Künstlern ist, deren eigene Persönlichkeit nicht im Vordergrund steht, die sich aber durch genaue Analyse durchaus erfassen lässt. Es ist kein Zufall, dass Kunsttraditionen wie die Skulpturen des subsaharischen Afrika oder die Malerei der australischen Aborigines eine derartig anhaltende Faszination auf die europäischen und amerikanischen Künstler seit Anfang des 20. Jahrhunderts ausgeübt haben. Die Simultanität von überpersönlich verbindlichen Stilvorgaben und bedingungsloser Individualität in diesen Kulturen war vorbildhaft für Künstler, die in ihren eigenen gesellschaftlichen Bedingungen als Außenseiter stets den Zwang empfinden mussten, ihre künstlerische Arbeit wenn nicht zu erklären, so doch gesellschaftlich legitimieren zu müssen. Die „primitiven“ oder „tribalistischen“ Kulturen gaben ihren Künstlern ein gesellschaftlich notwendiges Aufgabenfeld für ihre formalen Erfindungen. Kuhna schließt mit seinem Werk an diese Tradition an, auch seine Werke faszinieren durch die ambivalente Präsenz anonymer und unverwechselbar individueller Elemente. Natürlich sind sie keine rituellen Bilder, sondern zweckfreie Kompositionen – wie avantgardistische Kunst der westlichen Welt seit dem Beginn des 20. Jahrhundert. Ihre strukturelle Verwandtschaft zu rituellen Kultobjekten begründet jedoch ihre Überzeugungskraft.
Ein halbes Jahr vor der Ausstellung „Neue Farben“ im Museum Kunstpalast konnte ich im Kölner Museum Ludwig das Bild Alalgura (1993) der australischen Malerin Emily Kame Kngwarreye (1916-1996) sehen – eine rein aus Punkten unterschiedlicher Farbe zusammengesetzte große Komposition, deren Kurzbeschreibung auf Kuhnas Bilder ebenso gut passen würde1. Der kulturelle Hintergrund dieser beiden verschiedenen Punktebilder unterscheidet sich grundlegend, und doch stehen Kuhna wie auch Emily Kame Kngwarreye in ihren jeweiligen Kulturtraditionen an einem extremen Punkt, indem sie Bildkompositionen erfanden, die aus unhierarchisch organisierten Gruppierungen von Punkten unterschiedlicher Farbe auf einer großen Fläche bestehen. Es gibt bei aller Unterschiedlichkeit doch eine große Affinität zwischen diesen Künstlern, und dies lässt den Schluss zu, dass Malereitraditionen aus unterschiedlichen
Zeiten und Regionen sich nach ähnlichen Kriterien entwickeln und auch nach ähnlichen Kriterien beurteilt werden können. Die Punktemalerei von Hermann-Josef Kuhna braucht keinen Vergleich zu scheuen, und sie eröffnet den Zugang zu anderen Traditionen der Malerei. Die Affinitäten von Kuhnas Malerei reichen weit, weil sie grundlegende Fragen der Wahrnehmung adressieren. Kuhnas Bilder insistieren auf einer Präsenz, die an die Ideale der Amerikaner Barnett Newman und Ad Reinhardt heranreicht: „The Sublime is Now“ vs. „Timeless Painting“. Kuhnas Bilder besitzen eine beinahe anonyme Überzeugungskraft, der Künstler tritt hinter die Wirkung seiner Bilder zurück, seine Malerei ist nicht expressiv aufdringlich. Dennoch bleibt sie – bei Nahsicht – immer erkennbar als Malerei, als Handarbeit. Die ehrliche Flachheit seiner Bilder, die sich den ungemischten Farben verdankt, erzeugt eine komplexe Wirkung in der Wahrnehmung des Betrachters, die sich immer wieder und zuverlässig neu einstellt, wenn man mit der Betrachtung beginnt. Kuhna malt seit gut 50 Jahren, und seine Bilder scheinen nicht zu altern. In seinem Gesamtwerk sind Entwicklungslinien nur auf gleichsam mikroskopischer Ebene zu erkennen, künstlerische Entwicklung steht in diesem Werk nicht im Vordergrund. Jedes einzelne Bild von Hermann-Josef Kuhna ist unverwechselbar und doch sind sie alle gleich, weil sie von Kuhna gemalt worden sind.
Kay Heymer, 2016
- Ausstellung Remembering Forward. Malerei der australischen Aborigines seit 1960. Museum Ludwig, Köln / Hirmer Verlag, München 2010. ↩︎